Trauer um Leonhard Weidinger

Leo Weidinger auf dem Arbeitskreistreffen 2018 in Berlin

Wir trauern zutiefst um unseren Freund, Kollegen und ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Mag. Leonhard Weidinger, der am 22. September 2023 nach einem langen und tapferen Kampf gegen seine schwere Krankheit von uns gegangen ist.

„Würden die Museen ihre Arbeit g’scheit machen, hätten die Anwaltskanzleien nichts zu tun…“

Leonhard Weidinger

Manchmal fehlen einem die Worte – ihm fehlten sie nie. Pragmatisch und dabei immer aufrichtig, lösungsorientiert und dabei auch schonmal ungeduldig, provokant und dabei manchmal auch ein bisschen rotzig aber stets positiv, verantwortungsbewusst und mit einem Augenzwinkern vertrat Leo die Provenienzforschung und ihre Community so leidenschaftlich wie kaum ein anderer.

2017 in Dresden im Kreis seiner Vorstandskolleg:innen Jasmin Hartmann, Caroline Flick, Johanna Poltermann und Sven Haase

Praktisch von der ersten Sekunde an war er dabei: Ab 2005 arbeitete er als selbstständiger Historiker für die österreichische Kommission für Provenienzforschung im MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst in Wien und setzte sich ab diesem Moment intensiv – und dies sowohl beruflich als auch ehrenamtlich – für die Recherche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kunst- und Kulturgut nicht nur in Österreich ein. Sein Engagement für die Digitalisierung von Wiener Auktionskatalogen aus der NS-Zeit setzte er auf internationaler Ebene etwa im Rahmen der von ihm durchgeführten Datenredaktion im Projekt German Sales für das Getty Research Institute ab 2011 und 2016 fort.

Er nahm regelmäßig und engagiert an internationalen Workshops, Fachtagungen und Austauschprogrammen teil. Von 2014 bis 2018 war er Vorstandsmitglied, von 2017 bis 2018 Vorsitzender des Vorstands des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V. und förderte die Vernetzung und den fachlichen Austausch zwischen Provenienzforscher*innen weltweit. Das von ihm mitinitiierte Treffen des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V. im November 2017 an der Albertina und am Technischen Museum Wien, dem Leo erstmals aufgrund seiner beginnenden Krankheit nicht selbst beiwohnen konnte, wird allen Beteiligten ebenso in Erinnerung bleiben, wie sein 2018 anlässlich der Tagung 20 Jahre Washingtoner Prinzipien: Wege in die Zukunft im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgetragener Appell (Digitale) Arbeitskultur: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Mit dem ihm eigenen Humor nahm er sich der strukturellen Probleme der Provenienzforschenden an, die als „eierlegende Wollmilchsäue“ anhand ihrer grünen Buttons im Plenum zu erkennen waren, um auf die Befristung ihrer Verträge hinzuweisen. Mit demselben politischen Engagement vertrat er die Professionalisierung der Provenienzforschung auch im Dezember 2019 bei einem Hearing on Cross-Border Restitution of Looted Art im Europaparlament in Brüssel.

2019 in Washington D.C.

Strukturen lagen Leo dabei immer ganz besonders am Herzen, ganz gleich ob auf die Arbeitsbedingungen in der Provenienzforschung, die Vernetzung von Forschungsergebnissen oder Quellen und deren Inhalte bezogen. Er setzte sich nicht nur für ein Digitales Archiv für die österreichische Kommission für Provenienzforschung ein, er beriet auch andere, etwa den Forschungsverbund Provenienzforschung Bayern, beim Aufbau entsprechender Ressourcen-Repositorien. Er war maßgeblich beteiligt an der Konzeption, Umsetzung und technischen Redaktion des Online-Projekts Lexikon der österreichischen Provenienzforschung.

Auch über die reine Digitalisierung bzw. digitale Bereitstellung von Quellen und Informationen hinaus bemühte sich Leo um die Zusammenführung von Daten und die Optimierung bestehender Prozesse. Ein besonderes Faible hatte er für vermeintlich nebensächliche Details, etwa Konkordanzen von Transport- und Depotlisten, an denen er unermüdlich arbeiten konnte, ob aus eigenem Interesse oder im Auftrag, etwa als Leiter einiger vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderter Projekte am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Von der statistischen Aufbereitung der Wiener Wohnungsauktionen ab 1938 über die Bergungen von Kulturgut bis hin zur ‚Restlverwertung‘ Österreichs im Umgang mit den nach 1945 ‚übriggebliebenen‘ Objekten: Nahezu pedantisch konnte er werden, wenn es um die ungenaue Dokumentation von Provenienzinformationen und deren Provenienz, ergo um die Provenienz der Provenienz ging, der er eine seiner vielen Publikationen widmete.

2019 in Düsseldorf mit Meike Hopp und Barbara Bechter

Leo war bestrebt, dieses Wissen und diese Strukturen für alle Forschenden nutzbar zu machen und am Aufbau digitaler Plattformen zur Rekonstruktion historischer Strukturen mitzuwirken. Als Mitbegründer der AG Digitale Provenienzforschung im Jahr 2018 organisierte er den Workshop Digitale Provenienzforschung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Universität Wien und beteiligte sich an der Konzeption von Projekten wie der Bildsuche in Auktionskatalogen des Landschaftsverbands Rheinland in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik und dem Arbeitskreis Provenienzforschung e. V. Zuletzt beriet er das Pilotprojekt zur Sammlung Adolphe Schloss des Jewish Digital Cultural Recovery Project.

Kaum jemand ging so großzügig mit seinen Quellen um, war so freigiebig mit Informationen und Ressourcen – Nutzbarkeit und Ergebnis waren ihm stets wichtiger als alles andere. Wenn wir Forschenden etwas aus Wien benötigten, zögerte Leo nicht, es zu finden und bereitzustellen; wenn Überlebende und Nachfahren der im Nationalsozialismus Verfolgten Hilfe benötigten, war er sensibler und unterstützender erster Ansprechpartner, der mit seiner breiten Expertise und seinem Datenfundus immer erste Schritte in die Wege leiten und in die Community vernetzen konnte. Fachliche Gespräche und Diskussionen mit ihm konnten bis spät in die Nacht dauern und wurden doch keine Sekunde „fad“.

Leo war ein Arbeitstier, sein Laptop permanent griffbereit oder auf dem Schoß, und zugleich war er doch auch entspannter Genießer und Gourmet, der stets ein offenes Ohr für alle Anliegen – beruflich wie privat – hatte. Nach einem geselligen Abend setzte er sich gerne noch einmal an den Schreibtisch und präsentierte am nächsten Morgen die Lösung für ein Problem, von dem man oft selbst noch gar nicht wusste, dass man es hatte.

Manchmal fehlen uns die Worte, wie Du uns fehlen wirst, lieber Leo!

Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Lebensgefährtin und seinen Angehörigen. Kondolenzschreiben bitten wir an die österreichische Kommission für Provenienzforschung beim Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport in Wien zu richten. Sie werden auf der Website der Kommission veröffentlicht.